Achterbahn der Gefühle auf der alten Seidenstrasse
Der Ladakh Marathon und insbesondere die Khardung La Challenge, ein 72 Kilometer Ultralauf über den gleichnamigen, 5‘370 Meter hohen Khardung Pass reizten vor der Pandemie bereits dreimal meine Sinne. Nach 2016, 2017 und 2019 sollte es zurück gehen auf die unbarmherzige Strasse hinaus aus dem Nubra Valley nach Leh, in die Hauptstadt des ehemaligen Königreiches im Himalaya. Der Veranstalter hat auf Wiederholungstäter reagiert und im Jahr 2022 eine neue Distanz, den Silk Route Ultra über 122 Kilometer ins Leben gerufen. Der Lockruf fand Erfolg. Ende August sass ich wieder im Flieger über die Himalaja Gebirgskette. Der Empfang der kargen Landschaften fiel verhalten aus. Understatement kann der Gegend absolut bescheinigt werden.
Als alte Seidenstrasse bezeichnet man ein weit verzweigtes Netz von Karawanenstrassen, dessen Hauptroute den Mittelmeerraum auf dem Landweg über Zentralasien mit Ostasien verband. Die rund 8‘000 Kilometer lange Strecke begann in Xi’an im heutigen China und folgte dem Verlauf der Chinesischen Mauer in Richtung Nordwesten, passierte die Taklamakan-Wüste, überwand das Pamir Gebirge und führte über Afghanistan in die Levante; von dort wurden die Handelsgüter dann über das Mittelmeer verschifft. Auf dem Weg durch das Hochgebirge lag dabei auch das Nubra Valley.
Mit von der Partie in diesem Jahr sind Max und Igor, beide angemeldet für die 72 Kilometer Distanz der Khardung La Challenge. Als erfahrene Ausdauerathleten bringen sie ein breites Portfolio an Wettkämpfen mit nach Ladakh. Was beiden fehlt, sind Kenntnisse in der Höhe. Beim Wettkampf hier sind nicht die zurückzulegenden Höhenmeter entscheidend, sondern die absolute Höhe, in der der Event stattfindet. Wenig vergleichbar mit Trail Läufen in europäischen Gefilden. Während der zehn Tage Vorbereitung, die wir gemeinsam zur Anpassung an Höhenlagen jenseits der 4‘000 Meter nutzen, kann sich das Körpersystem nur im Minimum umstellen. Eine vernünftige Akklimatisierungsphase würde vier bis sechs Wochen dauern. Das übersteigt den Zeitrahmen eines Lauftouristen. Wird der kurze Zeitraum für einen befriedigenden Wettkampf reichen?
Die Wege trennen sich. Im Bus geht es für mich am Tag vor dem Start des Silk Route Ultra nach Kyagar. Max und Igor können noch einen Tag länger bei Zimtschnecken und Ginger-Lemon-Honey Tee geniessen. Für die Teilnehmer der Khardung La Challenge ist der Transfer einen Tag später.
Aufstrebendes Läuferland Indien
Die Anreise zum Startort auf der Wettkampfstrecke, entgegengesetzt der Laufrichtung, ist kurzweilig. Schnell kreisen die Gespräche mit den indischen Teilnehmern um die verschiedensten Laufevents auf dem Subkontinent. Indien hat momentan ca. 800 (!) Marathons und unzählige Ultraveranstaltungen im Wettkampfkalender. Die Community wächst von Jahr zu Jahr. Laufen und Sport im Allgemeinen gewinnt an Wertschätzung. Während in westlichen Ländern Turnschuh Marken oft wichtiger sind als Turnen, oder Sportwagen bedeutender als Sport, ist hier noch eine Aufbruchstimmung spürbar. Sicherlich auch dank steigendem Wohlstand. Aber vor allem, weil Gesundheit einen Stellenwert in der Gesellschaft bekommt. Und alles noch unverdorben. Ein Marathonfinish wird als Leistung honoriert, während bei uns Zeiten zählen. Es kann auch gut sein, dass jemand von seinem Marathonlauf berichtet und auf Nachfrage hin ergänzt: ahhh, nein, ich habe nur die zehn Kilometer Distanz absolviert. Und alles mit einem breiten zufriedenem Lächeln. Sympathisch. Immer respektvoll.
Die letzte Nacht vor dem Start ist recht entspannt. In einem einfachen Hotel mit richtigem Bett (das ist nicht immer selbstverständlich bei Wettkämpfen im Himalaja) und einem ausgiebigem Abendessen lässt es sich aushalten. Kyagar war bereits seit dem 3. Jahrhundert Teil der Seidenstrasse. Die Karawanen haben im Dörfchen ein paar Tage Rast gemacht, bevor es über die fordernden Passpassagen im Karakorum ging. So viel Zeit bleibt uns nicht. Eine Übernachtung und dann stehen die üblichen Formalitäten an. Medizinischer Check und kurzes Briefing. Wichtiger ist es, die benötigten Sachen zurechtzulegen und zu entspannen. Der Start wird um 19 Uhr erfolgen. Es ist dann bereits dunkel. Der Lauf geht durch die Nacht. Schlaf vorausholen geht kaum. Aber wenigstens die Beine und die Psyche auf die anstehende Herausforderung einstellen. Und essen. Essen kann man als Ultraläufer nie genug!
Hektisch wird es dann erst nach 18 Uhr. Der Bus sollte uns an die Startlinie bringen. Abfahrt 18.15 Uhr. Bis alle eingetroffen sind, ist es 18.20 Uhr. Nach fünf Minuten springen wir wieder aus dem Gefährt. Jeder mit mehreren Beuteln für die Checkposten bepackt. Bei einigen sind Wechselschuhe und der halbe Hausrat darin. Ich beschränke mich auf Nahrung und ein Wechselshirt. Wohin mit den Beuteln, kann uns jetzt, 30 Minuten vor Start, noch niemand sagen. Motup, der Gründer des Ladakh Marathon und verantwortlicher Leiter aller Distanzen, koordiniert höchstpersönlich. Die Busfahrer werden angewiesen, wohin sie die Lieferung der Beutel bringen sollen. Anstatt der einheitlichen Farben habe ich mir auf Anraten eines Laufkollegen auf dem Markt heute noch alte Reissäcke gekauft. Diese recycelten Beutel mit Originalbedruckung fallen sofort auf. Das sollte sich später noch als herausragende Wahl bestätigen.
Hinein in die Nacht der Nächte
Und dann geht es schnell: Aufstellen, kurze Ansprache, runterzählen von 10 und ab geht die Post. Die Karawane, bestehend aus 47 Läufern setzt sich in Bewegung. Ein digitaler Zeitmesser auf dem Dach eines Begleitfahrzeugs zeigt gerade mal 18.44 Uhr an. Wen kümmert’s? Wenn du dich in fremde Gefilde begibst, musst du auch deren Herangehensweisen akzeptieren. Easy. Auf deinen eigenen Lauf hat das keinen Einfluss. In langsamen Trab setze ich mich in Bewegung.
Vier Starter werden erst 1,5 Stunden später die Strecke in Angriff nehmen. Sie sind aufgrund ihrer abzuschätzenden Stärke zurückversetzt. Allesamt Angestellte des indischen Militärs. Darunter auch der Sieger der Khardung La Challenge früherer Jahre.
Wo liegt der Unterschied zwischen der 72 Kilometer Distanz und diesem neuen 122 Kilometer Format? Beim Silk Route Ultra sind die ersten 27 Kilometer mehr oder weniger flach. Das Nubra Valley liegt hier auf etwa 3‘100 Metern Höhe. Danach geht es 52 Kilometer bergan(!). Nach gelaufenen 50 Kilometern durchqueren wir Khardung, den Startort der Khardung La Challenge. Ab hier laufen alle auf identischer Strasse. Nach Überquerung des Khardung La Passes folgen 42 Kilometer Downhill bis nach Leh. Wie lange wird es dauern, bis die ersten Starter der Khardung La Challenge uns eingeholt haben? Bzw. wie lange dauert es, bis Igor und Max mich schnappen?
An einer langen Baustellensequenz verliere ich etwas an Contenance. Die gesamte Laufstrecke ist zwar für den üblichen Verkehr gesperrt. Begleitfahrzeuge des Veranstalters, Ambulanz, Militär und Presse sind jedoch permanent am Kreisen. Der lose Staub des trockenen Untergrunds, an feinen Pulverstaub erinnert, stiebt bereits bei jedem Schritt auf. Wenn eines der Fahrzeuge dann in hohem Tempo passiert, wird es zum Sandsturm. Wild gestikulierend und mit lauten Rufen mache ich meinem Ärger Luft. Beim Husten spüre ich den in der Kehle festsitzendenden Schleim. Unangenehm und die Atmung einschränkend. Nach solch einer Tirade stoppt ein Ambulanzauto und fragt, ob es mit gutgeht und ich etwas benötige. Nein, ich brauche nur meine Ruhe. Und Luft. Also bitte, langsam fahren!
Khardung, nach 50 Kilometern erreiche ich nach 5,5 Stunden, 00.30 Uhr als Tageszeit. Stockdunkel, nur der Mond leuchtet als sanft wiegende Sichel über die Gebirgskette. Bis hierhin habe ich versucht alles herauszuholen. Auf dem flachen ersten Stück konnte ich nach und nach die vor mir Laufenden einholen. Ich weiss, dass ich am Anstieg nicht 100 Prozent geben kann. Bei unserer Akklimatisierung im Markha Valley habe ich vor vier Tagen im Zelt mit kaltem, kräftigen Wind irgendetwas Leichtes aufgeschnappt. Kratzen im Hals, Nase und vordere Stirnhöhle verpropft. Entgegen meiner üblichen Herangehensweise musste ich für zwei Tagen medikamentös nachhelfen. In extremer Höhe kann sich ein Infekt verstärkt auswirken. Und bei aller Abenteuerlust, will ich nicht allzu viel riskieren. Das Finish steht bei einem Ultra an erster Stelle. Alles andere ergibt sich oft.
Die Teilnehmer der Khardung La Challenge, wie auch Igor und Max, schlummern jetzt noch, mehr als zwei Stunden vor ihrem Start. Wenn ich richtig gezählt habe, sollte ich an zweiter oder dritter Position liegen. Das ist mir völlig gleichgültig. Einzig ein Begleitfahrzeug in meiner Nähe, welches die führenden Läufern betreut, nervt da etwas. Beim Blick zurück sehe ich den Schein einiger Stirnlampen. Nach vorn erkenne ich nichts. Ich muss also wirklich im Starterfeld weit vorne liegen.
Emotionale Achterbahnfahrt der Gefühle
Am Checkposten in North Pullu, dreizehn Kilometer nach Khardung kommen die Spitzenläufer des 72 Kilometer Rennens von hinten angesprintet. Aufgrund der Höhe, 4’300 Meter, aber auch der bereits absolvierten Distanz, habe ich schon in ein straffes Gehen übergewechselt. Ich kenne diese Strasse gut vom Mountainbiken und habe sie auch öfter mit dem Motorrad oder sonstigem Vehikel befahren. Und natürlich bei den früheren Teilnahmen an der Khardung La Challenge. Die Erinnerungen tragen mich durch die sich unendlich in die Länge streckenden Geraden und engen Haarnadelkurven. Mittlerweile ist der Strassenbelag fast vollständig asphaltiert. Einzig wenige Stellen, an denen Wasser und Frost den Bedingungen zusetzen, sind noch rau und steinig.
Hinter North Pullu erkenne ich ein Mädel im Licht eines Autos. Eine starke Teilnehmerin, die Favoritin in der Frauenwertung. Ich dachte, sie müsste sich übergeben, aber sie war einfach erschöpft. Nach vorn gebeugt, die Hände auf den Knien abgestützt stand sie da und rang nach Luft. Ich lege meinen Arm auf ihre Schulter und sage ihr, sie solle den Pass langsamer hinaufgehen. Es funktioniert nicht, wenn sie zu sehr drängt. Sie hat so viel Zeit bis zum Cut-Off. Jetzt und hier entscheidet sich ihr Schicksal für diesen Wettkampf. Der Khardung La Pass wird der Scharfrichter sein. Sie stimmt zu. Ich habe das Gefühl, dass sie konkurrenzfähig ist. Trotz dieser kleinen Krise. Keine Ahnung, ob sie das Rennen aufgibt oder nicht. Nur fünf Frauen haben sich an den Start gewagt. Später, nach Bekanntgabe der Ergebnisliste steht sie ganz oben. Sie hat die Mädels Wertung gewonnen. Nur zwei der fünf kamen ins Ziel. Dranbleiben lohnt sich auf Ultras immer.
Aus dem nächsten Auto, das an mir vorbeifuhr, wird mir zugerufen, dass ich jetzt in Führung liege. Nun, die Jungs der Spezialeinheit der Armee begannen 1,5 Stunden später. Sie werden irgendwann von hinten das Feld aufrollen.
Meine Oberschenkel beginnen zu schmerzen. Keine Krämpfe. Eher so, als wenn einhundert Nadeln ganz fein zustechen. Könnte an diesem Mini-Infekt liegen. Bei den vergangenen Wettrennen habe ich mich jeweils mit irgendetwas herumgeschlagen. Diese Erfahrung gehört auch dazu. In sich hineinhören. Die kleinsten Signale wahrnehmen. Und entsprechende Entscheidungen treffen.
Ich werde langsamer, das straffe Gehen verkommt zum Wanken. Gefühlt bewege ich mich im Stillstand. Ich kann nicht beschleunigen. Bin wie ferngesteuert. Schwindel, Atemnot, leichte Kopfschmerzen setzen ein. Ich ärgere mich über jede Kleinigkeit. Ich schreie Autofahrer an, die zu schnell fahren. Ich bin nicht ich. Die Höhe, jetzt 5’100 Meter, hat mich im Griff. Sie hat meine Kommandozentrale übernommen und macht mit mir, was sie will.
Dann kreisen meine Gedanken um Keira. Unsere Jüngste hat sich vor ein paar Tagen Unterarm und Ellbogen gebrochen. Bei aller Reiselust sind das die Momente, an denen ich gerne zu Hause wäre. Ihre Schmerzen erfassen mich genau jetzt. Ich wünsche niemanden auf dieser Welt Schmerz in irgendeiner Form. Besonders berührt es jedoch, wenn nahestehende Personen betroffen sind. Das hilft mir, meine eigenen Schmerzen herunterzuspielen. Dicke Tränen kullern über die Wangen.
Und trotzdem habe ich es als Erster zur Passhöhe geschafft. Vermeintlich. Später im Ziel soll ich eines Besseren belehrt werden. Die Begleitfahrzeuge haben sich geirrt. Ein indischer Topläufer, Rekordhalter bei anderen 100 Meilen Rennen und diversen weiteren Ultras, mal nicht beim Militär angestellt, ist bereits nach dem Start allen davongerannt. Er wird am Ende Vierter. Und definitiv war er der erste des Silk Route Ultra hier oben auf 5‘300 Meter.
Einer der Helfer fragt, ob ich eine Knoblauchsuppe mag? Falsche Frage! Ich bin in einer anderen Welt, Mann! Während der gesamten achtzehn Stunden Wettkampf war ich erstaunlich emotional. Normalerweise verkrafte ich das im Wettkampf besser. Was ist los heute?
Abkürzungen gibt es nicht
Der nächste Läufer der Langstrecke, mein Mitbewohner der vergangenen Nacht, erreichte den Khardung La. Er fragt mich, ob ich einen Mitstreiter beim, ich benutze hier mal aus Etikette das englische Wort „Cheating“ gesehen habe. Er soll ein Stück in einem Auto mitgefahren sein. Ich habe es nicht realisiert. War da wohl zu sehr in mir selbst. Er war hinter uns und dann wie durch ein Wunder vor uns. Beamen? Geht das schon? Der Mitbewohner sprach mit den Veranstaltern im Zielbereich. Der Typ, ein Einheimischer, wurde disqualifiziert.
Ich hatte am Khardung La einen Beutel mit Essen zum Nachfassen abgeben. Während ich alles sortiere, fragt mich der Mitstreiter, ob ich mit ihm auf die ersten Kilometer des Downhills komme. In kurzen Sätzen mache ich ihm verständlich, dass ich für mich sein muss. Ich habe ihn gehen lassen. Ich bin gerne allein in Wettkämpfen. In diesem Moment, und der hat sich über Stunden erstreckt, hatte ich eine wirklich schlimme Zeit. Nicht muskulös oder von den Beinen her. Psychisch. Ich habe mich nicht hinterfragt aufzugeben. Das mache ich nie. Meine Gedanken waren einfach gefangen. Ich konnte diesen ablenkenden Film oder eine Zerstreuung bringende Geschichte nicht wie üblich in meinem Kopf verankern.
Das war der Moment, in dem ich einen Entschluss fasse: ich brauche eine Pause. Eine Pause vom Laufen. Ich will diesen Hunger wieder spüren. Rauszugehen und einfach loszurennen. In den vergangenen Monaten habe ich viele Abenteuer erlebt und erfolgreich an verschiedenen Events teilgenommen. Es braucht einen Reset. Nur noch 40 Kilometer und ich bin im Ziel.
Immer mehr Khardung La Läufer überholen. Insgesamt sind 250 gestartet. 209 kommen ins Ziel. Von uns 51 Startern des Silk Route Ultra erreichen gerade einmal 18 die Main Mall Road in Leh. Da wird der grösste Unterschied zwischen beiden Distanzen deutlich: zwischen 72 auf 122 Kilometer scheiden sich die Geister. Die Anstrengung, die diese fünfzig Extrakilometer fordern, kann man nicht in einer blossen Zahl ausdrücken. Und nochmal: es ist einzig die absolute Höhe, die diesen Wettkampf zu einem der härtesten macht.
Ich beschliesse, zu gehen. Ein Wechsel aus Rennen und Gehen. Es ist eher ein unbewusst auftauchender Sicherheitsgrund, nicht so viel Druck auszuüben. Von Zeit zu Zeit schaue ich auf die Uhr. Herzfrequenz 110/115. Ich bin immer noch auf knapp 5‘000 Metern. Kein Grund zur Beunruhigung. Die Nacht weicht klarem Sonnenlicht. Und dieses verbreitet eine äusserst beruhigende, positive Stimmung. Ein neuer Tag bringt auch jeweils eine neue Chance.
Herausforderungen als Lebensinhalt
Macht es Sinn, an einem Wettbewerb teilzunehmen, wenn man nicht hundertprozentig fit ist? Das muss natürlich jeder für sich entscheiden. Und manchmal übernehmen das auch die wettkampfverantwortlichen Mediziner. Mit jedem Ultrakilometer mehr lernt man dazu. Seinen Körper, Signale, die Sprache zu erkennen. Der Dialog mit sich selbst ist dann jeweils spannend. Du musst ein guter Schauspieler sein, um dein Ego auszutricksen. Wie ich heute wieder erfahre, gelingt mir das nicht immer. Ultraläufer kennen ihr wahres Ich.
Warum immer wieder diese Herausforderungen? In meinem Buch „Ein Marathon geht immer“ habe ich versucht darzulegen, dass ich nicht zwingend eine Startnummer brauche. Und doch dienen diese organisierten Events dazu, neue Orte, Wege, Geschichten zu erkunden. Die Seidenstrasse hatte solch eine immense Bedeutung für unser heutiges Dasein, dass es mich mehr als reizt, in diese Geschichten einzutauchen. Das ginge natürlich entspannter in einer organisierten Gruppenreise aus einem Minibus heraus.
Und trotzdem mag ich dieses Gefühl, Teil eines Rennens zu sein. Früher habe ich mein Bestes gegeben und war froh, an so etwas teilnehmen zu können und es geschafft zu haben. Jetzt, mit zunehmender Reife und Erfahrung, und besonders in Indien, bin ich wettbewerbsfähig. Ich bin wettbewerbsfähig in einem eigenen Rahmen. Ich kann mir ein Ziel stecken, das aufzeigt, dass eine Kombination aus Training und Lebensstil mehr Glücksmomente ermöglicht. Es geht nicht darum, super asketisch zu leben. Vielmehr möchte ich die Lebenszeit aktiv und in vollem Bewusstsein gestalten.
Wenn mich Leute nach meinem Alter fragen, sind sie meistens überrascht. Gestern ein Inder zu mir: „Und warum habe ich mehr graue Haare als du?“. Gemeinsames Lachen. Ich mag es einfach, jeden Winkel meines Körpers zu spüren. Und meine Stärken zu testen. Aber als ich heute an einem Punkt angelangt bin, an dem ich nichts davon mehr spüre, mein Körper eigentlich Ruhe will und ich das Gegenteil tue, habe ich mich selbst gebeten, ihm eine Pause zu gönnen. Ich muss nicht rennen. Es gibt noch andere Sportarten, die keine Langeweile aufkommen lassen. Und Raum für neue Dinge ist auch wichtig. Wie Atemtechniken auszuprobieren oder endlich mal an einem Yogakurs teilzunehmen. Nur noch etwa 30 Kilometer.
Herunterfahren in Höhenlagen
Weiter im Rennen überholen immer mehr Starter der Khardung La Challenge. Igor fliegt mit lauten Rufen heran. Schon von weitem kann ich meinen Namen hören. Als er näher kommt, fängt er an Witze zu machen, versucht die Stimmung aufzuheitern. Mein Signal: bitte einfach weiter. Ich möchte allein sein. Er kennt mich und nimmt seinen Speed wieder auf. Er zeigt eine starke Leistung. In dem Feld der Khardung La Challenge mit 250 Startern belegte er hinter den örtlichen Militärs den 8. Platz. 8:08 Stunden, schnellste Zeit eines Ausländers aller Zeiten!
Jetzt gehe ich nur noch, um das Ziel zu erreichen. In straffem Marsch kommt aktuell kein weiterer Teilnehmer der 122 Kilometer an mir vorbei. Oh doch, drei der vier später gestarteten Eliteläufer rasen irgendwann ohne grosse Worte vorüber. Einer musste bereits zuvor aufgeben. Ich feuere die Jungs an, die mich überholen.
Mein Interesse an schneller Beendigung schwindet. Es klingt komisch, aber ich verfalle in einen innerlichen Genussmodus. Versuche, mich zu belohnen. Für all das, was ich mir antue. Viel essen und trinken, ab und zu ein Lächeln. Diese einfache Veränderung der Mimik löst, entspannt und setzt positive Energie frei. Ich spüre keinen Mangel an Kraft. Dank permanenter Verpflegung hatte ich während des gesamten Wettlaufes übrigens nie einen Mangel an Energie. Weniger von den offiziellen Aidstations, wörtlich übersetzt Hilfsstation. Die dort angebotene Nahrung ist nicht wirklich hilfreich und macht mich nicht so richtig an.
Die langgezogenen Geraden bis zur nächsten Spitzkehre eröffnen jeweils weite Blicke hinunter ins Industal. Und auf die Stadt Leh. Ich weiss natürlich, dass dort das Ziel ist. Mental braucht es bei der ersten Teilnahme immer eine Portion Extraverständnis. Luftlinie sind das wenige Kilometer. Auf dem Strassengeschlängel zieht es sich ins Unendliche.
An einem weiteren Checkposten, South Pullu gönne ich mir eine Pause. Höhe 4‘700 Meter. Die warme Kleidung der Nacht verschwindet in meinen bereitgelegten Reissack. Den ich dank des eigenwilligen Designs sofort im Bus erkenne. Die offiziellen, blauen Beutel liegen unisono im Bus verteilt. Zum Glück muss ich hier nicht suchen.
Ladakh Marathon als sportlicher Magnet
Es ist, wie eingangs erwähnt bereits meine vierte Teilnahme. Und so erlaufe ich mir Erinnerungen. Nochmal links weit nach hinten ins Tal. Dort kommt diese unglaublich farbenprächtige Felsformation. Der Strassenbelag ist besonders schwarz. Dann unendlich nach rechts mit einem kleinen Schlenker über ein ausgetrocknetes Flussbett. Wieder links und es öffnet sich eine weit einsehbare 180° Kehre. Hier sitzt meist ein Fotograf (auch in diesem Jahr). Dann eine lange Gerade bergab bis zu einem aufragenden Felsen. Links oben, einige hundert Höhenmeter höher, stolpert ein weiterer Läufer die Piste herab. Und schon bald ist diese Schlangenlinienpassage erreicht, von der die Strasse rechts runter in zwei Serpentinen zur Stadtgrenze abfällt. Das ist natürlich nur ein kleiner Ausschnitt der Strecke. Ist es langweilig, das alles wieder und wieder zu erleben? Die Frage stelle ich mir erst jetzt, während des Schreibens. Im Wettkampf zählt die Ziellinie, alles andere ist ausgeblendet.
Motup Chewang ist Gründer und bis heute Hauptverantwortlicher des Ladakh Marathon. Nach starken Regenfällen verwüsteten 2012 mehrere Sturzfluten verschiedene Dörfer in Teilen Ladakhs. Um Geld für die Opfer der Naturkatastrophe zu sammeln, aber auch um auf die abgelegene, wunderschöne Gegend im Himalaja aufmerksam zu machen, kam ihm die Idee mit diesem Laufevent in einer Höhe, in der andere Bergsteigen. Anfangs war der Marathon noch das Mass der Dinge. Schon im Folgejahr kam die Khardung La Challenge hinzu. Der Anlass hat sich während zehn Austragungen etabliert. Besonders unter indischen Läufern ist Leh am zweiten Septemberwochenende „The Place To Be“. Während 2016 noch knapp 2‘000 Starter auf allen Distanzen unterwegs waren, sind es heute über 5‘000.
Am Stadtrand von Leh angelangt, verbleiben noch acht bis zehn Kilometer bis zur Mall Road, dem Ziel. Früher wurde jeder einzelne Läufer von Teenagern auf Fahrrädern abgeholt und durch die kleinen Strässchen der Stadt geführt. Jetzt, der immens höheren Teilnehmerzahl geschuldet, ist die Strecke mit Tafeln und auf dem Strassenbelag aufgesprayten Pfeilen markiert. Nur an neuralgischen Punkten sitzen die Teenager, erinnernd an Schülerlotsen und weisen den Weg. Ihr Applaus und die aufmunternden Worten helfen dabei mehr als die blose Richtungsanzeige.
Ein letzter atemberaubender Blick auf die Shanti Stupa, das Leh überragende Wahrzeichen und die Stok Gebirgskette, bevor ich in die Gassen des Stadtzentrums eintauche. Die Alpen sind auch schön, auch die Dolomiten haben ihren Reiz. Mit dem Rucksack über die Lofoten oder mit dem Rad der Donau entlang – immer wieder bin ich auf der Suche nach neuen Schauplätzen für die Sinne. Und hier, jetzt, zum x-ten Male bin ich so gefesselt von diesem Anblick. Aussergewöhnlich, grandios, da so andersartig. Die runden Wölbungen der Stupa. Die leicht im Wind wippenden Pappeln. Die im Ladakh Stil errichteten Häuser. Weit unten das grüne Industal. Dahinter die in kräftigen Brauntönen aufragenden Berge. Majestätisch, wie mit weissen Kronen besetzt, thronen über allem die schneebedeckten 6‘000er Gipfel.
Das grande Finale
Da reisst mich eine Stimme aus meiner Lethargie. Max! Drei Kilometer vor dem Ziel hat er mich noch eingeholt. Kurzes gemeinsames Abchecken des jeweiligen Befindens. Alles im grünen Bereich. Mit kurzen Worten mache ich ihm verständlich, dass er davonziehen soll. Wir werden uns schon bald im Ziel wiedersehen. Er hat sich, ebenfalls nach einem kurzen Infekt aus den ersten Tagen, wieder einigermassen erholt. Und wird das Rennen unter zehn Stunden beenden. Am Khardung La Pass hat er leichte Probleme mit der Höhe erfahren. Sich davon aber nicht beirren lassen und den Wettkampf solide zu Ende gebracht.
Zeit? Habe ich eine Zielzeit? Wenn ich jetzt mit Max renne, kann ich unter 18 Stunden bleiben. Nach wie vor bin ich aber im Genussmodus. Mit mir und der Welt im Reinen. Eine innere Stimme flüstert mir zu: renn und du bist schon bald am Ziel. Eine andere: nein, gehe und geniesse die verbleibenden Meter!
Jubelnde Menschen stehen am Strassenrand. Ich interagiere mit ihnen. Gedanken an frühere Besuche kommen auf. Vieles hat sich verändert. Aber Vieles ist auch gleich geblieben. Diese Herzlichkeit trägt die müden Beine Schritt für Schritt weiter. Meine Körpersprache ist mittlerweile alles andere als des Bejubelns würdig. Und doch lasse ich mich fallen in diese warme, angenehme Art, die mir entgegenströmt.
Das geschäftige Zentrum ist erreicht. Höhe 3‘500 Meter. Souvenirläden, Coiffeure, Cafés, Restaurants, kleine Kramgeschäfte, bunte Gebetsflaggen. Am Eingang zur Mall Road jubeln begeisterte Menschen und rufen Motivationsfloskeln zu. Viele Marathonläufer für die anstehenden 42 Kilometer am Sonntag sind bereits da. Dazu gesellen sich Einheimische, Touristen, Kinder, ältere traditionell Gekleidete an den Absperrgittern. Noch einmal um die letzte Ecke. Ich kann meinen Namen aus dem Lautsprecher hören. Der Sprecher erzählt meine Ladakh-Geschichte. Es ist alles sehr vertraut plötzlich.
Die Masse der Menschen an der Absperrung nimmt zu. Sie feiern, schreien, klatschen. Ich empfinde eine Menge Glück. In diesem Moment hier zu sein. Das mit ihnen zu teilen. Mit weit ausgebreiteten Armen lasse ich mich fliegen. Auf dem blauen Teppich dem Zielbogen entgegen. Ich nehme das nicht aktiv wahr. Es passiert einfach.
Die Ziellinie überquere ich in meiner persönlichen Ladakh Manier mit einem Sprung. Die Wogen tragen mich. Ich muss nicht allzu fest abspringen. Ein weiteres Finish bei diesem abnormen Anlass. In 18.04 Stunden konnte ich den Silk Route Ultra mit einem breiten Lächeln beenden. Eine lange Reise. Noch viel länger dauerte es für die frühen Nutzer der Seidenstrasse. Sie benötigten drei Tage für diesen Abschnitt. Alles also eine Frage der Perspektive.
Im Zielbereich steht für jeden Läufer in einem Zelt der Mediziner eine Liege bereit. Erstaunt stellt eine junge Militärärztin fest, dass mein Puls erhöht ist. Mit einem Lächeln schaue ich ihr tief in die Augen. Neben dem Sprint auf der Zielgeraden ist noch ein weiteren Umstand dafür verantwortlich: nach wild hämmernden Rhythmen tanzen Dopamin und Endorphine zur Linderung der Schmerzempfindlichkeit in bassorientierten 4/4 Takt. Und das möchte ich gerade auch nicht unterdrücken.
Einige Stunden später, nach Dusche und kurzer Erholung sind wir zurück an der Ziellinie. Weitere Läufer anfeuern, Erfahrungsaustausch, mit Zuschauern plaudern. Zur Überraschung höre ich erstaunt wiederholt meinen Namen aus den dröhnenden Lautsprecherboxen. Siegerehrung. Trotz verminderter Leistung, bzw. Leistungsbereitschaft konnte ich die Wertung der älteren Herren, oder hier höflich „Veteranen Wertung“ genannt, gewinnen. Älter werden hilft. Und macht doch auch richtig Spass!
Bin ich nun fertig mit dem Kapitel Khardung La und Ladakh Marathon? Motup scherzt, er müsse jetzt wieder eine neue Distanz kreieren, damit ich zurückkomme. Meine Antwort: beim nächsten Mal reicht mir der Halbmarathon völlig! Gelächter. Er glaubt nicht daran. Ich auch nicht. Ich werde zurückkommen. Das weiss ich. Für den Laufevent oder einfach zum Aufsaugen dieser einmaligen Oase in unserer hektischen Welt. So viele zufriedene Menschen. Positive Momente mit Freunden. Abtauchen in eine fremde Welt. Mittlerweile so vertraut fremd.
Photo Credits der Wettkampfbilder «Ladakh Marathon«
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