Mit dem Konzept «Morgenlaufrunde in…» präsentieren wir Städte und Gegenden, die früh morgens bereit sind für einen lockeren Lauf. Das sind doch alle Orte? Ja, aber nicht überall kann man zusätzlich zum Laufen auch Interessantes über Geschichte, Kultur, Land und Leute aufsaugen. Im Vorbeirennen sozusagen. Die Distanzen bewegen sich zwischen 10 und 15 Kilometern. Tempo und ein Fokus auf der Lauf Uhr sind dabei nicht gefragt. Eine Kamera und ein wacher (oder langsam aufwachender) Geist dann schon eher.
Morgenlaufrunde in… Reykjavik
Island. Was gibt es da nicht alles für Sagen. Monumentale Filmepen wurden hier verfilmt. Die Wikinger haben die Geschichte des Inselstaates massgeblich geprägt. Das Land ist bekannt für seine spektakuläre Landschaft und Naturphänomene: Gletscher, Vulkane, Geysire, Wasserfälle, Lagunen, heiße Quellen, Nordlichter, Mitternachtssonne… Und nicht zuletzt dank der treuen Fussballfans, die während der EM 2016 mit ihrem angsteinflössenden «Huh» Schlachtruf die Stadien vibrieren liessen.
Und dann gibt es da noch die am nördlichsten gelegene Hauptstadt der Welt, Reykjavik. Ein magischer Ort. Die raue Natur dringt hier bis in jede Gasse vor. Und doch fühlt man sich sofort willkommen. Angekommen. Bereits nach Ankunft am Flughafen kommt diese isländische Gelassenheit auf. Beim Bustransfer zum Hotel. Der Bus Chauffeur weist mit ruhiger Stimme und einer gewissen Ironie (isländische) darauf hin, dass die Sicherheitsgurte in Island auch im Bus zu schliessen sind. Und er wiederholt die Ansage, ohne in jeglicher Form belehrend zu wirken, bis auch die letzte Zunge im Gurtschloss hörbar einrastet. Erst dann geht die Fahrt los.
Reykjavik hat diese unwirtliche Magie. Städte, die weit ab von grösseren Einzugsgebieten liegen, sind hiermit vergleichbar. Ushuaia, Hammerfest oder Dunedin sind solche Beispiele. Alle nahe an den Polen der Weltkugel gelegen. Unwirtlich und doch von Menschen urban gemacht. Etwas mehr als 200’000 Menschen leben heute im Grossraum Reykjavik. Die Entwicklung ging in den vergangenen beiden Jahrhunderten rasant.
Es ist dunkel. Windig. Die nordatlantische Kälte zieht durch die Stadt. Ein ganz gewöhnlicher Morgen. Im Herbst, Winter und Frühjahr zeigt sich die Sonne nur spärlich. Die Tage mit den kürzesten Lichtphasen im Dezember dauern nur von 11.00 bis 13.00 Uhr. Laufen geht aber immer. Und überall. Die Motivation während der kommenden Stunde Neues zu entdecken, ist gross. Wir starten an der Hallgrímskirkja, dem markantesten Wahrzeichen der Stadt. Von vorn an ein startendes Spaceshuttle erinnernd, ist die überdimensionierte Kirche von den meisten Ecken Reykjaviks aus bestens zu sehen. Und selbst weit über die Stadtgrenzen hinaus dominiert ihr expressionistisches Äusseres den Anblick. Künstler veranlasst dieses abstrakte Bauwerk immer wieder zu Aktionen. So hat Gudjon Sigurdsson in seinem Atelier “Fotografi” in der Nähe der Hallgrimskirkja die berühmte Aufnahme eines Astronauten in der angrenzenden Skólavörðustígur Strasse vor der Kirche geschossen.
Flotten Schrittes zum Warmwerden geht es die Frakkastigur hinunter zur Bucht von Reykjavik, der Faxaflói. Und hier wartet grad ein weiteres bekanntes Wahrzeichen der Stadt. The Sun Voyager (isl. Sólfar) taucht im dunklen Morgenlicht am Ufer auf. In warmen Farben angeleuchtet, erinnert das Edelstahl Kunstwerk an ein Wikingerschiff. Viel Zeit zum Verweilen bleibt nicht. Der Wind bläst immer noch erbarmungslos. Flach an der befestigten Uferpromade führt uns der Weg geradezu auf ein dominantes gläsernes Bauwerk. Die Harpa, weltbekannte Konzerthalle und Veranstaltungszentrum besticht in wechselnd farbiger Beleuchtung mit moderner Materialwahl. Durch die bildhafte Übersetzung landestypischer Naturphänomene in gebaute Architektur ist Harpa zutiefst in der isländischen Tradition verwurzelt.
Wir sind gerade einmal einen Kilometer gerannt und erleben die Eindrücke der ruhigen frühen Stunden, in denen sich die Stadt noch im Tiefschlaf wiegt, mit geballter Sehenswürdigkeiten Dichte. Denn unweit, schräg gegenüber von Harpa, ein unscheinbarer, mittelalterlich weiss getünchter Flachbau: die Büros des isländischen Premierministers, bzw. der aktuellen Premierministerin Katrín Jakobsdóttir. Wer hier Security Gards vermutet, liegt falsch. Alles entspannt in einem Land, dass auch ohne Armee auskommt. In dem die Polizei nicht einmal bewaffnet ist.
Gefahren lauern auf Island eher in der Natur. Ein Vulkan bricht ständig irgendwo aus. Das bekommen wir in Mitteleuropa gar nicht mit. Die Erde bebt ebenso unaufhörlich. An manchen Tagen werden bis zu 400 Erdbeben gezählt. Kaum spürbar. Und hier, mitten in der Stadt aus einem Rinnsal neben der Strasse dampft es. Heisses Wasser aus einer der unzähligen geothermalen Quellen, das in und um Reykjavik aus der Erde austritt. Das gab der Stadt schlussendlich auch ihren Namen. Reykjavik heisst nichts anderes als Smokey Bay, also rauchende Bucht. So müssen die ersten Siedler das Land vom Meer aus gesehen haben.
Hinter Harpa sind wir am Hafen angekommen. Von hier legen die Touristenboote zu den Walbesichtigungstouren ab. Und die mittlerweile nicht mehr so kleinen Fischereiboote. Rund um den Hafen hat sich in ehemaligen Lagerhallen eine bunte Szene aus Restaurants und Cafes, Künstlern, Souvenirshops und Reiseagenturen angesiedelt.
Die Scheinwerfer der Kähne sind auf den Fang gerichtet. In der Luft liegt ein strenger Geruch von allerlei Meeresgetier. Fischerei ist in Island neben dem Tourismus einer der Hauptwirtschaftszweige.
1801 lebten gerade einmal 300 Leutchen hier. Das Besondere an Island: sämtliche Zuzüge, Sterbedaten, Ehen, Geburten etc. sind seit Entdeckung der Insel im 8 Jahrhundert dokumentiert. Die Stammbäume jedes einzelnen Isländers bis zum damaligen ersten eintreffenden Schiff nachvollziehbar. Fluch oder Segen? Ja, es sind viele Bewohner miteinander verwandt. Neuzeitlich hilft eine moderne App bei der Partnersuche. Sie zeigt sofort an, in welchem Verwandtschaftsgrad die Angebuhlte zu dir steht. Die App wurde von der Universität in Reykjavik entwickelt und zählte schnell zu einer der beliebtesten im Land.
Vom Ozean peitscht immer wieder eine kräftige Brise feuchtigkeitsgeschwängerte Luft aufs Land. Als Läufer hier bis du nur ein kleiner Puffer in der Brandung. Aufhalten können wir die Windmassen nicht. Genauso unaufhaltsam sind wir unterwegs. Es geht hinaus aus dem Urbanen. Der Weg führt immer noch direkt an der Uferlinie entlang. Inzwischen haben wir sechs Kilometer in den Beinen. Raum und Zeit sind vergessen. Vor uns dreht sich die Kuppel eines Leuchtturmes. Wir sind am entferntesten Punkt unser Laufrunde, der kleinen Insel Grótta angekommen. Die Insel ist mittlerweile Naturreservat. Auf dem bestens präparierten Lauf- und Radwegen betrachten wir die sie umgebene schwarze Wand des Meeres aus etwas Entfernung. In der Dunkelheit lässt sich kein Übergang von Meer zum Himmel erkennen. Ausser dem Wind ist es absolut still hier draussen.
Ein Kontrast kommt aber sobald auf, wenn wir nach einer Linksabbiegung die Lichter der Stadt vor uns haben. Reykjavik ist nicht riesig. Wolkenkrater sucht man vergeblich. Die Wohn- und Gewerbegebiete erstrecken sich aber doch auf stattlicher Grösse. Wir rennen am Südausläufer der östlichen Landzunge der Stadt entgegen. Oder werden wir etwa getragen? Der Rückenwind lässt uns fliegen. Bis hierher waren gerade einmal 30 Höhenmeter zu absolvieren. Flacher geht kaum.
Rasch haben uns die ersten Häuser wieder verschluckt. In den vergangenen beiden Jahrzehnten hat sich Islands Hauptstadt auch einen Namen als beliebtes Reiseziel gemacht. Die unzähligen Naturschauspiele ziehen dabei ebenso magisch an wie die entspannte Lebensart der Isländer. In den Zufriedenheitsrankings taucht Island im weltweiten Vergleich immer wieder ganz vorn auf. Die Lebensqualität auf der Insel ist hoch. Warum? Weil es die Einwohner so gestalten. Das Dasein ist alles andere als einfach. Gejammert wird trotzdem nicht. Die langanhaltenden dunklen Tage und Nächte werden mit viel Farbe im Stadtbild angenehmer gemacht. Graffiti und Wandmalereien ziehen den Blick immer wieder auf Häuserfassaden.
Mitten in der Stadt liegt der kleine See Reykjavíkurtjörn, an dessen Ufer das Parlamentsgebäude, die Universität und das Rathaus liegen. Unzählige Wasservögel haben hier ihren Brut Raum.
Wie kann man sich all die Namen und die Aussprache der Schauplätze auf dieser Morgenrunde merken? Es ist schon eine abstrakte Sprache. Das ursprüngliche Nordisch. Während in den skandinavischen Ländern diverse Reformen die mündliche und schriftliche Ausdrucksweise modernisiert wurde, hat im abgelegenen Island niemand etwas davon mitbekommen. So auch bei der Namensgebung der Neugeborenen. Als einziges nordisches Land hat sich die Tradition des nordgermanischen Aufbaus des Namens in Vornamen und Vatersnamen (auch Mutternamen) bewahrt. Ein bekanntes Beispiel dafür ist der Entdecker Islands, Leif Eriksson. Leif, der Sohn von Erik. Anderes Beispiel: ein Mann namens Jón Einarsson hat einen Sohn namens Ólafur. Ólafurs Nachname ist nicht Einarsson wie bei seinem Vater, sondern Jónsson, was wörtlich Jóns Sohn heisst (Jóns + son). Genauso funktioniert die Namensgebung bei Töchtern. Jón Einarssons Tochter Sigríður hiesse mit Nachnamen Jónsdóttir, wörtlich also Jóns Tochter (Jóns + dóttir).
Dieser morgendliche Auftaktlauf vergeht auch wieder viel zu schnell. Die Impressionen und Gedanken werden noch lange nachwirken. Die raue Stadt versprüht unglaubliche Behaglichkeit. Ruhe. So früh am Morgen. An einer Strassenkreuzung passieren wir den Eingang zu Islands Punkmuseum. Punk ist seit den 60ern Tradition. Noch ist der Eingang verschlossen. Später wird laute Musik aus dem unterirdischen Gang heraufdröhnen. Das Museum befindet sich in einer ehemaligen öffentlichen Toilette. Genauso abgefahren, wie die Stadt selbst.
Nach einem kurzen Stück auf der Laugavegur, der Haupteinkaufstrasse Reykjaviks biegen wir ab in die Skólavörðustígur Street. Hier, wo vor etwa 20 Jahren der Astronaut dem Fotografen als Model diente. Der Kirchturm kommt nun immer schneller näher. Fast eineinhalb Stunden unterwegs. Die Sonne schaut uns scheu an, der Himmel öffnet sich ihr langsam. Zeit für einen guten Kaffee, ein duftendes frisch gebackenes Teilchen und einen Skyr, das typische joghurtartige Nationalgericht Islands in einem der vielen kleinen Caféhäuser der Stadt.
Viel Spass beim Nachlaufen!
Mit einem Klick auf Morgenrunde Reykjavik kannst du die Strecke in Garmin Connect anzeigen: Reykjavik auf Google Maps:Mehr Informationen zu Island’s Hauptstadt gibt es auf der Seite des Visit Reykjavik, dem Tourismusportal der Stadt.
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