Ballermann 6. S’Arenal, im Süden Mallorca’s. Der Zeitmesser zeigt sechs Uhr morgens. Der erste Bus in Richtung Palma naht auf der menschenleeren Strasse. Wo sonst die Partyüberbleibsel mit lauten Klangpegel aus heiseren Kehlen für vermeidliche Stimmung sorgen, schleppen sich ein paar Mallorquiner mit müden Gesichtern lustlos in Richtung Arbeitsplatz. Mittendrin ein bunter Vogel mit Laufrucksack. Noch nicht ganz hellwach, aber bereit für ein neues Abenteuer.
Auf unbekannten Wegen. Der GR 221, auch die Trockenmauerroute genannt, ist ein beliebter Fernwanderweg auf der Baleareninsel. Von Süd nach Nord oder umgekehrt zieht es ganzjahreszeitlich Aktive für die Durchquerung des Tramuntana Gebirges an. Von Port d’Andratx bis Port Pollenca über etwa 160 Kilometer warten ungeahnte Abenteuer auf die Wanderer. Wer sich die Tramuntana als einfachen Gebirgszug vorstellt, liegt verkehrt. Allein die Anzahl der knapp 6’000 zu bewältigenden Höhenmetern lassen in etwa erahnen, was einen erwartet. Die absolute Zahl sagt dabei noch wenig über die unterschiedlichen, herausfordernden Terrains und die omnipräsenten Schwierigkeiten bei der Navigation aus. Für Entschädigung sorgen die atemberaubenden Ausblicke auf die Küstenlinie und den Gebirgszug, sowie die immergrüne Vegetation der alten Steineichenwälder, die Olivenhaine, blühende Blüten am Wegesrand und die ursprünglichen, teils verfallenen Bauten an der Route, die an frühere Zeiten, als Köhlerei noch ein grosses Business auf der Insel war, erinnern.
Diese Route durch das Kalksteingebirge einmal in schnellerem Tempo als wandert zu absolvieren, ist schon länger mein Gedanke. Jetzt, im Januar ist es ruhig auf der Insel und auf dem GR 221. Was bietet sich also besser an, als das Projekt in Angriff zu nehmen? Gezielte Vorbereitung habe ich dabei ausser Acht gelassen. Einfach mal los und schauen, wie es so läuft. Das Unbekannte wird mir auf dem Weg schon noch begegnen und die Richtung weisen. Also die Richtung, wohin das Experiment führt.
Mit dem Bus 25 geht es zum Bahnhof in Palma. Vom Intermodal bringt Buslinie 101 die Reisegäste nach Port d’Andratx. Bei Ankunft beginnt bereits die Morgendämmerung. Die restlichen Passagiere sind Inselbewohner. Vermutlich auf dem Weg zum Broterwerb. Sie verlieren sich in alle Richtungen. Ich verweile nicht lange am pittoresken Hafen und mache mich auf den Weg. Es ist kalt. 2 Grad Celsius. Nach ein paar hundert Metern der erste Stopp. Handschuhe raus. Kurz darauf nochmal ein Halt: Mütze auf. Die Tagestemperaturen von 16 Grad gestern haben mich unvorsichtig werden lassen.
Hinauf zu neuen Höhen. Die Kälte soll sich aber bereits am ersten Anstieg legen. Wärmen von innen. Vorbei am mondänen Villenhügel geht es in die wilde Natur. Die mehr oder weniger Schwerreichen, die hier ihr Domizil haben, drehen sich im Bockspringbett noch einmal um. Sie geniessen die wohlige Wärme. Ich will aber gar nicht tauschen. Beneide sie keine Sekunde um die langweilige Ruhe.
Die ersten Meter hier im lichten Kieferwald weisen auf die Gegebenheiten hin, die auf dem GR 221 warten. Ein ausgewaschener, steiler Pfad schlängelt sich nahezu senkrecht empor. Spuren von Mountainbikes weisen auf eine rege Nutzung dieses schattigen Waldpfades hin. Zu dieser frühen Uhrzeit bin ich hier allein. Das wird auch die meiste Zeit so bleiben. Während des gesamten Tages begegneten mir gerade einmal neun Wanderer. Es ist ruhig auf dem Wanderklassiker im Winter.
Januar ist der Bau Monat auf Mallorca. Da wird gehämmert, gebohrt und mit Makulatur über so manchen Mangel hinweggetüncht. Bereits vor Erreichen der beschaulichen Örtchen wie Son Elm oder Estellenc ist der laute Handwerkerradau vernehmbar. Bis zum Saisonbeginn muss alles wieder auf Vordermann sein. Da kommt die Ruhe auf dem teils anspruchsvollen Pfaden wie gelegen. Über rumpelnde Kopfsteinpflasterpassagen geht es ebenso wie über samtweichen Waldboden. Lose Steine wechseln sich mit Kalksteinfelsen ab. Ehemalige Karrenwege und immer wieder auch Schotterpassagen, die mit schnellen Schritten Kilometer fressen, lassen es nicht langweilig werden. Ständige Begleiter: Trockenmauern, die auf den meisten Teilen des Streckennetzes den Wegesrand säumen.
Atemberaubende Schönheit. Und dann sind da diese Ausblicke. Zurück Richtung Süden auf die Dracheninsel vor Son Elm. Richtung Westen auf die schroff, mehrere hunderte Meter abfallenden Klippen des Kalksteingebirges, in die malerischen Buchten mit den nur zu erahnenden Stränden, auf die Höhenzüge weit Richtung Norden bis hin zum Puig Major, der höchsten Erhebung der Insel und gen Osten auf den flachen Part Mallorcas. Ein tiefes Blau der See steht im Kontrast zum leichten Hellblau am Himmel.
Die Streckenführung ist alles andere als langweilig. Während die ersten Anstiege sich bis auf Höhen von 300-400 Metern ziehen, werden mit zunehmender Tageszeit Gipfel von bereits 600 Metern überschritten. Davon ausgehend, diese jeweils von fast null zu beginnen, macht es interessant. Das hüfthohe Gras ist auf der schattigen Seite der Insel nass. Matschige Stellen weisen auf Regen in der nahen Vergangenheit hin. Steine sind feucht und nicht immer trittsicher. Das alles macht diese Reise noch etwas spannender.
In den Dörfern herrscht tüchtiges Treiben auf den Baustellen, ansonsten ist es im Januar allerdings recht tot. Bestenfalls ein Minimarkt steht zum Auffrischen der Getränkevorräte bereit. Die geisterhaften Restaurantbauten liegen brach, als wären sie fluchtartig am Saisonende verlassen worden. Hier und da steht noch ein Strauss Kunstblumen auf den eingestaubten Tischen. Die mit Kreide angeschriebenen Gerichte sind über die vergangenen Monate ausgeblichen. Feste Nahrung habe ich darum für einen ganzen Tag an Bord. An den Trails ist aber auch kaum Wasser zu finden. Einzeln verstreut liegende Refugios sind geschlossen. Durstige Sportkameraden sollten hier genügend Reserven einplanen. Ich bin da eher als Kamel unterwegs, dass mit wenig Flüssigem auskommt.
Wildes Umherirren bei zunehmender Müdigkeit. In Esporles, nach etwa 50 Kilometern finde ich einen kleinen Laden mit bunter Obstauswahl. Ich bin von dem Angebot so überfordert nach den Entbehrungen der letzten Stunden, dass ich einzig einen Apfel für gut befinde. Es ist nun bereits späterer Nachmittag und der nächste Anstieg auf einem steinigen Waldweg zum Coll de sa Basetta folgt. Die Wegmarkierung, die zwischenzeitlich sporadisch vorhanden war, ist wieder inexistent. Das wäre ein Kritikpunkt am GR 221. Eine Ausschilderung ist phasenweise praktisch nicht vorhanden. Wanderer haben Steinmännchen als Orientierungspunkte hinterlassen. Dafür bin ich immer wieder sehr dankbar. Die Streckensuche selbst mit GPS gestaltet sich ohnehin schwieriger als erwartet. Aber das ist ja auch jeweils Teil des Unbekannten.
Die absolvierten Höhenmeter machen sich jetzt in den Beinen bemerkbar. Es war vielleicht etwas blauäugig, dieses Abenteuer so aus der Kalten heraus anzugehen. Seit gerade einmal drei Wochen bin ich beschwerdefrei von einer Covid Infektion im Oktober. Der Trainingszustand ist noch nicht der Alte. Das sind aber genau die Herausforderungen, die ich suche. Im Dialog mit dem Körper herausfinden, was möglich ist. Es könnte natürlich auch ein Check Up bei einem Mediziner sein. Ich vertraue da aber eher auf mein Körpergefühl. Und wenn die Beine brennen, sagt er dir, dass es genug ist. In einem Wettkampf geht man dann schon mal über diese Reaktion hinweg. Jetzt stelle ich mir nur die Frage, was mein Hauptaufenthaltsgrund für diese Woche auf Mallorca ist. Und der GR 221 ist es dieses Mal nicht.
Trainingslager Mallorca
Mach mit uns die Insel unsicher! Im Triathlon Camp vom 26.2. bis 12.3.2022 erkunden wir Mallorca schwimmend, auf dem Rad und laufend.Irgendwie schleppe ich mich im Dunklen den steilen, auf losem Waldboden rutschigen Pfad nach Valldemossa hinab. Die in warmen Gelbtönen leuchtenden Strassenlampen haben schon von weit oben ihre magische Anziehungskraft ausgelöst. Und eben in diesem Abstieg fasse ich eine Entscheidung. Es ist genug. Ich bin noch nicht in dem Leistungszustand, um mir die gesamte Strecke zu geben. Der Fokus liegt auf dem physischen Erschöpfungszustand, anstatt auf dem Ziel in Port Pollenca. Der Geist hat nicht genügend Ressourcen. Das Zusammenspiel muss während der nächsten Monate wieder ausgebildet werden. Die Umstände der niedrigen Temperaturen setzen zusätzlich Akzente. Ein Übernachten im Freien kommt so nicht in Frage. Stärke ist es, Schwäche zuzulassen. Es muss nicht immer «mehr» sein. Zufriedenheit und inneres Glück lassen sich nicht vervielfachen, je mehr man hat oder macht. Plan B muss her.
Was ist Plan B? Es ist gerade mal 18.30 Uhr. Mittlerweile stockdunkel. Sollte ich noch einen Bus zurück nach Palma erwischen? Vielleicht sogar auf die Arbeiter treffen, mit denen ich am Morgen meine Reise begonnen hatte? Sie gehen erschöpft nach einem absolvierten Arbeitstag nach Hause. Genau wie ich. Ein fantastischer Tag hier draussen im Outdoor-Büro findet ein zufriedenes Ende. Trotz der Erschöpfung geniesse ich den Moment. Müdigkeit verspüre ich keine mehr. Die Körperstrukturen sind immer noch zu sehr in Unruhe. 62 Kilometer mit knapp 3’000 Höhenmetern haben mich gefordert. Es braucht noch etwas mehr Vorbereitung, um diese Herausforderungen wieder belastungsärmer zu ertragen.
Es gäbe da auch noch die Variante, eine Übernachtungsmöglichkeit im Ort zu suchen. Ist in der Off-Season kein leichtes Unterfangen. Noch bevor ich mich damit auseinandersetzen kann, treffe ich auf eine junge Familie. Meine Frage nach der Bushaltestelle können sie nicht beantworten. Als Touristen verbringen sie auch nur eine Woche auf Mallorca. Die Franzosen mit zwei kleinen Kindern haben den Nachmittag in Valldemossa verbracht. Und sind nun auf dem Rückweg nach Palma. Und bieten mir eine Mitfahrgelegenheit an! Ich mag diese überraschenden Wendungen. Unterwegs stellt sich heraus, dass ihr Hotel unweit von meinem liegt. Und so bin ich schneller zurück am Ballermann, als ich mir vorgestellt hatte. Pünktlich zum Start einer weiteren Partynacht in den einschlägigen Lokalen. Ich bevorzuge mein Bett und träume das Erlebte noch einmal nach. Und weiss bereits jetzt: ich kehre zurück auf den GR 221 und werde die gesamte Strecke erkunden.
Manchmal hat es auch etwas Gutes, nicht alles immer sofort beim ersten Mal zu erledigen. Dass die Sonneninsel Mallorca auch anders kann, beweist sie bereits zwei Tage später. Bis runter auf Höhen von 800 Metern schneit es. Die Vorfreude auf weitere Kilometer des Trockenmauerweges ist trotzdem ungetrübt. Ein blauer Zehennagel, als angestrebte Markierung eines vollwertigen Trailrunners, bleibt für dieses Mal als Souvenir. Und wird mich noch ein paar Monate an das Abenteuer Trans Tramuntana erinnern.
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