Eine (Wett)-(Kampf)-Erfahrung in heimischen Gefilden. Die Nachricht über die Absage der 100 Miles of Istria kam Mitte März. Das war zu einer Zeit, als unser tägliches Leben noch nicht so eingeschränkt war. Wir dachten, die Corona Pandemie und die damit einhergehende Krise ist in ein paar Monaten vorbei. Innerhalb kurzer Zeit wurden wir eines Besseren belehrt. Abstand halten, das öffentliche Leben ist praktisch inexistent. Wie lange noch, ist eine Frage der Vernunft. Ist es vernünftig, sich weiterhin sportlich im Freien zu betätigen? Auf jeden Fall. Allein schon für die Psyche. Neue Ziele suchen. Selbstverständlich unter Einhaltung der geltenden Bestimmungen. Und so lag es auf der Hand die gute Vorbereitung für den Wettkampf in Kroatien zu nutzen und die Strecke zu Hause in der Schweiz zu absolvieren. COVID-19 konform. Allein. Ohne Kontakt zu anderen. Eine Ausnahme war die rettende Cola an einer Tankstelle. Aber dazu später.
Eine Strecke war schnell gefunden. Ich wollte schon immer mal am Zürichsee entlang rennen. Und dann war da noch der Bachtel, ein Berg im Zürcher Oberland, der auf der To-Do-Liste stand. Und nebenan liegt da noch das Hörnli, der zweithöchste Berg des Kantons Zürich. Ein paar Kilometer weiter der Grat, der höchste Berg im Thurgau. Und dazwischen der Dreiländerstein, eine Markierung, die exakt an den Kantonsgrenzen der Kantone Zürich, St. Gallen und Thurgau irgendwo im Boden eingelassen ist. Den galt es natürlich auch noch mitzunehmen. Sinnbildlich versteht sich. Ein geeignetes Navigationsprogramm hat mir dann eine Strecke empfohlen, bei der ich mit einigen kleinen Anpassungen auf die gewünschte Distanz von 100 Meilen, also 161km kam.
Auf ins Ungewisse und in die Nacht. Als Startzeit wurde bewusst abends 20 Uhr gewählt. Durch die Nacht bei wachem Geist. Das ist auch die Überlegung einiger Veranstalter. Anfangs konnte ich nicht verstehen, warum man einen Start für so ein langes Ding auf 22.00 oder gar 24.00 Uhr legt. Mit etwas Erfahrung weiss ich warum. Die Zeit verfliegt in der Dunkelheit. Navigation und Konzentration auf den Untergrund sind viel einfacher zu bewerkstelligen. Und es macht richtig Laune. Und darum sollte es bei der ganzen Aktion ja gehen. Spass haben auf der Wettkampfdistanz. Ohne Racedruck, Cutoff-Zeiten und permanent Mitstreiter um sich herum. Und der Plan ging voll auf.
Zürich war schnell passiert. Die erste Hürde musste ich in Kilchberg nehmen. Teilnehmern des Ironman Switzerland früherer Jahre ist diese Passage auf der Radstrecke bekannt. Ein betörender Duft liegt plötzlich in der Luft. Immer stärker werdend. Und schon taucht rechts das traditionsreiche Firmengelände von Lindt & Sprüngli auf. Für Schokoladenfans kein einfaches Unterfangen, hier einfach so vorbeizulaufen. Samstagabend gegen 21.30 Uhr ist das allerdings nicht schwer. Die Fabrikationshallen sind dunkel. Ein paar Leuchtreklamen machen Lust auf die neuesten Kreationen. Der Duft kommt glaub aus der Konserve. Es kann doch hier nicht permanent nach Schokolade riechen?!
Immer weiter am See entlang. Flach, mittlerweile auf Kieswegen. Die langen Teerpassagen sind für den Moment vorbei. Kleine Grüppchen Partylustiger vergnügen sich am See. Ich bin erstaunt wie konsequent. Also nicht wie konsequent sie Party machen. Sondern wie die Covid Regeln eingehalten werden. Nie mehr als fünf, vielleicht mal sechs stehen bei dezenter Musik zusammen. Teilweise schrecken sie auf, weil sie in mir einen Ordnungshüter vermuten. Davon bin ich aber weit entfernt. Ich bin doch nur ein Verrückter auf dem Weg zum Ziel. Einige haben dann auch nicht mehr als ein Kopfschütteln übrig. Die letzten Partypeople treffe ich übrigens gegen 2.00 Uhr nachts. Leicht angetüdelt werfen sie mir einen ungläubigen Blick zu mit dem Kommentar: «Lueg a mol, der joggt jetz…»
Die Grenze zum Nachbarkanton Schwyz ist passiert. Bei Steuerfreunden bekannt als DAS Paradies. Rechter Hand haben oder hatten Gutbetuchte aus aller Welt aus Sport, Wirtschaft und Kultur ihren Wohnsitz. Eine wichtigere Rolle spielte der Urkanton allerdings bei der Entstehung der Schweiz im Jahre 1291. Als einer der drei Gründungskantone war er auch der Namensgeber für die Eidgenossenschaft. In den folgenden Jahrhunderten wurde nach Eintritt von immer mehr Kantonen in die Confoederatio Helvetica – die alte lateinische Bezeichnung, die auf den antiken keltischen Stamm der Helvetier verweist – der Name Schweiz immer geläufiger. 1803 wurde dieser Begriff in der Mediationsverfassung erstmals amtlich gebraucht.
Am Kasino in Pfäffikon mache ich dann auch den ersten Umweg. Es soll nicht der Letzte sein. Das Kasino ist wie alle anderen Vergnügungsstätten geschlossen. Ansonsten wäre hier um Mitternacht noch reges Treiben. Es kühlt ein wenig ab. Die Bise frischt auf. Der Wind kommt von vorn, aus Südwesten. Zeit für eine leichte Jacke. Die Temperaturen sind angenehm zum Laufen. Eine Anzeige an der Apotheke verweist auf 14°C. Nicht schlecht für eine Nacht mitten im April. Bei den letztjährigen Austragungen der 100 Miles of Istria hat es im Ucka Gebirge auch schon mal geschneit. Das möchte ich mir jetzt aber nicht vorstellen. 42 Kilometer und damit ein Marathon sind Geschichte. Es läuft. Und macht Laune. Absolut noch im gesteckten Ziel. Ab hier kommt unbekanntes Terrain. Entlang des Obersees bin ich noch nie unterwegs gewesen. Gegenüber, noch hell beleuchtet, liegt Rapperswil Jona. Der Ironman 70.3 ist das sportliche Highlight des Städtchens, das schon bald einen prominenten Einwohner mehr hat. Roger Federer mit Familie bauen gerade an einem neuen Anwesen am Ufer des Zürichsees. Sechs Gebäude entstehen auf 16’000 Quadratmetern Fläche mit Seeanschluss. Da lässt es sich aushalten.
Für mich geht es weiter in die Dunkelheit. In Ferne kann ich die Berge mit leuchtenden Signalmasten erkennen. Ist da bereits der Bachtel dabei? Wo bin ich eigentlich? Zeit und Raum sind egal. Ich bin bei einer meiner Lieblingsbeschäftigungen: Bewegung in der Natur. Nur das zählt. Das Tempo liegt immer noch bei knapp über 6.00min/km. Fühlt sich leicht und locker an. Und endlich kommt nun auch der erste Trail. Auf einem kurzen Stück am Ende des Obersees. Über Wurzeln, durch Matsch, über umgestürzte Bäume. Linkerhand immer das Seeufer. Rechts im Wald ab und an das Knacken von Ästen. Nachtaktive Wildtiere, genau wie ich. Wir verstehen und schätzen uns. Gesehen habe ich auf der gesamten Laufstrecke ein einziges wildes Tier. Einen Fuchs. Und dreimal dürft ihr raten wo? Genau, in der Innenstadt Zürich’s kurz nach dem Start. So «gefährlich» ist unsere Natur in der Dunkelheit.
Auf der Lindt Ebene, entlang des gleichnamigen Zuflusses des Zürichsees, kam dann eine der angesprochenen zusätzlich eingebauten Kilometerschleifen. Links zum Greifen nahe die Lichter Schmerikon’s. Im Bewusstsein, diese erst nach 10 Kilometern zu erreichen, machte ich mich auf in die Zusatzrunde. Das ist einer der schwierigen Punkte bei einem Lauf in der Heimat. Die örtlichen Gegebenheiten sind bekannt. Es ist einfacher in Indien durch den Dschungel zu laufen und im Nachhinein festzustellen, dass man sinnfreie Zusatzkilometer absolviert hat. Hier ist es mental schwieriger. Aber ich war mir dessen bewusst und habe mich nicht verlocken lassen. Der kürzeste Weg ist nicht immer der einfachste oder der leichteste nicht immer der Beste. Am Ende kackt die Ente – tschuldigung… – ein Fünf-Liber ins Phrasenschwein. Was fällt einem aber auch alles bei so langer Beschäftigung mit sich selbst ein, Das Gute daran ist, nach dem Lauf hat man alles wieder vergessen. Ich hatte mir auch dieses Mal vorgenommen, meine Gedanken mittels Voice Recorder aufzunehmen. Aber leichter gesagt als getan. Der Fokus liegt dann doch eher beim Navigieren und Konzentrieren auf den Körper.
Es geht bergan – nicht nur landschaftlich. Ich bin nun bereits im Anstieg zum Bachtel. Für die kommenden 15 Kilometer werde ich zwei Stunden benötigen. Es war mit die schönste Zeit auf der gesamten Runde. Es fängt allmählich an, hell zu werden. Die Ausblicke auf den See und die beleuchtenden Gemeinden, im Hintergrund die majestätisch thronenden Gipfel der Glarner Alpen, die blühenden Obstbäume am Wegesrand. Der neue Tag bricht an und bringt Motivation mit sich. Auf dem Bachtel bei 1’112m habe ich mir dann ausgiebig Zeit gelassen und die aufgehende Sonne genossen. Die Orangetöne am Himmel, der dunkle Wald im Vordergrund und die schneebedeckten Gipfel am Horizont – Genuss auf hohem Niveau. Ich bin jetzt seit 10 Stunden unterwegs. Es ist 6.00 Uhr morgens. Wie ein Neuanfang. Ein kurzer Blick auf Hinwil, die Sauber-Stadt. Nicht wegen der erstklassigen Strassenreinigung, eher wegen der schnellen Autos, deren Produktionsstätte hier zu Hause ist. Vom Gipfel geht es direkt auf einen kurzen Singletrail ins Tösstal Richtung Fischenthal. Hier empfängt mich plötzlich eine eisige Kälte. Kennt ihr die Orte, an denen ihr euch nicht wohl fühlt, weil es dort jeweils so unwirtlich ist? Ich bin erst das zweite Mal in diesem Tal und kann mich daran erinnern, dass es beim ersten Besuch nicht anders war. Die Skisprungschanze in Gibswil ist zwar nicht mehr schneebedeckt, aber mein Vorstellungsvermögen visualisiert den Aufsprunghang mit weissem Überzug. Bereits Anzeichen von Halluzinationen? Keinesfalls, es ist einfach nur kalt.
Ehe ich mich versehe bin ich am nächsten Anstieg. Das Hörnli wartet in der Morgensonne. Je höher ich komme, desto wärmer wird es. Am aussichtsreichen Gipfel warten bereits Wanderer. Was machen die denn schon hier? Haben die kein Bett? Es ist 8.00 Uhr an einem Sonntagmorgen. Scheint ein beliebter Wanderspot zu sein. Im Mittelalter führte der Schwabenweg als Teil des Jakobsweges über das Hörnli. Kopf schüttelnd aber respektvoll grüssen wir uns mit Abstand. Von hier oben auf 1’133m ist der Blick auf die Alpenkette gigantisch. Rundumsicht vom Säntis bis hin zu den Berner Alpen und ins Jura. Ich verstehe die Wanderer nun absolut. Frühmorgens auf dem Gipfel in der wärmenden Sonne bei klarer Luft, was gibt es da Schöneres? Das Berggasthaus hat aufgrund der allgemein geltenden Massnahmen geschlossen. Verpflegung habe ich aber auch alles im Laufrucksack dabei. Um die 5’000 Kalorien werde ich für den Lauf benötigen. Wasser wird an Brunnen in den Ortschaften aufgefüllt. Die Versorgung ist also auch ohne wettkampfübliche Checkposten abgesichert. Was ich mir da so Feines für die lange Reise eingepackt habe? Neben ein paar üblichen Gels und Riegeln vertraue ich auf die Flüssigvariante eines schwedischen Hydrogels. Habe diesmal aber auch mit «normaler» Kost experimentiert. Drei Salamibrötchen waren das Highlight. Eins um Mitternacht, das nächste morgens bei Sonnenaufgang und eins am Mittag. Cashew- und Erdnüsse mit Honig und Salz haben ihren Zweck auch bestens erfüllt. Ebenso Trockenfrüchte. Etwas enttäuscht war ich von den goldigen Bärchen, für die ein zotteliger Deutscher seit Jahren Werbung macht. Von Laufkollegen als Superfood in Wettkämpfen empfohlen, haben sie bei mir keinen notwendigen Energieschub gebracht. Das lernt man aber nur, indem man es probiert. Alles in allem aber wieder eine lange körperliche Belastung ohne Einschränkungen im Verdauungsbereich.
Nur einen Kilometer nach dem Gipfel musste ich nicht lange suchen, um den Dreiländerstein zu entdecken. Hier treffen die Kantone Zürich, Thurgau und St. Gallen aufeinander. Ein Stein mit den Kürzeln der Kantonsnamen weist darauf hin. Gegenüber, im Boden eingelassen entdecke ich eine noch interessantere Markierung. Ein Stein mit einem eingemeiselten Dreieck. Ein trigonometrischer Punkt. Ein wichtiger Baustein bei der Landvermessung und Grundlage der Kartografie. Immer noch unverzichtbar, auch im Google Maps Zeitalter.
Bereits von weitem empfängt mich schon bald bei der Alp Ergeten Silberbüel ein Konzert. Keine Minnesänger oder Popstars. Eine illustre Kuhherde, die voller Freude auf das saftige Grün mit ihren Schellen läuten. In den unterschiedlichsten Tonlagen, wie in einem Konzertsaal. Es ergibt sich ein bunter Sound aus Klingklang und Zufriedenheit. Die Welt ist in Ordnung. Und so fühle ich mich auch. 97 Kilometer in den Beinen und noch voll im Genussmodus.
Auf dem kommenden Stück entdecke ich die schönsten Singletrails. Der Anstieg zum Grat über Wurzeln auf steilen Waldpassagen macht richtig Laune. Auf 992m bin ich auf dem höchsten Punkt des Kantons Thurgau angekommen. Wer war jemals schon hier oben? (Wer war jemals schon im Thurgau?) Aus dem Wald heraus geht der Blick an steil abfallenden Felsen ins Tal. Da muss ich hin. Über herrliche schmale Wanderwege lässt sich nochmal richtig Tempo machen. Wieder angekommen im Tösstal geht es eher nervig am Strassenrand bis Fischingen. Motorräder und Cabrios sind auf dem Weg in den Sonntag. Von weitem kann ich bereits das Kloster erkennen. Und in meinem Kopf baut sich eine Theorie über die weitere Strecke und den Zeitverlauf auf. Eine, die mich noch lange beschäftigen soll.
Nach Höhen kommen Tiefen. Es ist 10.00 Uhr und ich bin seit 14 Stunden unterwegs. Irgendwo habe ich ein Schild mit der Kilometerangabe 14 Kilometer bis Turbenthal gesehen. Normalerweise achte ich nicht auf so etwas. Mein Weg wird nicht der Strassenlinie folgen und die Angabe betrifft mich nicht. Aber trotz allem habe ich mich hinreissen lassen und begann zu rechnen. Turbenthal und der nächste grössere anzuvisierende Ort Winterthur waren dabei ein und dasselbe. Erzählt das niemandem, der hier lebt. Tatsächlich sind es von Turbenthal nach Winterthur auf meiner Route nochmal 15 Kilometer. Das sollte ich aber erst später nach Prüfung der Strecke am nächsten Tag feststellen. In meinem Kopf setzt sich in Fischingen fest: noch etwa 15-18 Kilometer bis Winterthur. Und bis zu einer Cola, die ich mir mit Erreichen dieses Zwischenziels als Goodie gönnen möchte. Angekommen in Turbenthal dann die Ernüchterung: Winterthur ist far away. Sicher gibt es hier auch irgendwo Cola. Aber das Ziel ist gesteckt. Da wird nicht abgewichen. Auf den Wander- und Radwegen in den Tössauen sind jetzt bereits viele Spaziergänger und Velofahrer unterwegs. Irgendwie bekomme ich das Gefühl, sie können meine Enttäuschung in meinem Gesicht ablesen. Zumindest schauen sie mich mitleidig an. Wenn ich mich mit etwas Abstand betrachte, kann ich das absolut nachvollziehen. Meine Körpersprache spricht Bände. Den Kopf gesenkt, leicht wankend bewege ich mich fort. Der lockere Lauf ist jetzt einem Spaziergang mit kurzen «Sprint»-Einlagen gewichen. Die kommenden 15 Kilometer werden unendlich. Ich kann die warme Sonne und den sich dem Fluss entlang windenden Kiesweg nicht geniessen. Ich bin in einer tiefen Krise.
Mit der Erfahrung aus verschiedenen Läufen weiss ich, dass das vorbei geht. Es gibt Rezepte, sich da selbst wieder heraus zu manövrieren. Das gelingt mir in der Regel auch ganz gut. Im Wettkampf. Jetzt kommt aber eine plötzliche Müdigkeit hinzu. Das Gefühl, beim Laufen einzuschlafen. Kann ich so gar nicht gebrauchen. Ich kann mir nur zureden und weitermachen. Schritt für Schritt, one foot in front of the other. Ich finde nicht den passenden Film in meinem Repertoire, um die Situation auszublenden. Irgendwie hat sie sich in meinem Kopf festgesetzt, nach 18 Stunden, also um 14 Uhr erreiche ich Winterthur. Eine Stunde später als zwischendurch errechnet, das ist kein Beinbruch. Ist ja kein Wettkampf. Und ich möchte diesen Lauf positiv erfahren. Also her mit der Cola und neue Energie tanken. Nach zwei Stunden Krise. Was sind schon zwei Stunden im Verhältnis zur gesamten Bewegungszeit. Die freundliche Tankstellenmitarbeiterin weiss bis heute nicht, dass sie mit dieser eiskalten 450(!) ml Flasche mein Leben gerettet hat. Noch vor einem Jahr hätte ich mich über 500ml freuen können, schiesst es mir durch den Kopf. Ist das etwa Sarkasmus oder Humor, der mir da langsam wieder aufflammt. Ich möchte nur klarstellen: ich bin absolut kein Cola Trinker. Was genau in solchen Momenten das Wunder aus der Flasche mit dem roten Etikett auslöst, bleibt mir ein Rätsel. Geholfen hat es jedenfalls. Nach 135 Kilometern verlasse ich zufrieden die Tanke und setzte mich wieder in Trab. Im Laufschritt.
Mein Tempo liegt jetzt auf der Geraden zwischen 6.50 -7.30/km. Anstiege werden konsequent gegangen. Und davon kommen noch drei Längere. Es ist zu früh für Euphorie. Auch wenn das Ziel, die 161 Kilometer zum Greife nahe scheint. Der Körper fühlt sich gut an. Keine Schmerzen in den Gelenken, muskulär alles der Kilometerzahl entsprechend. Der Kopf spielt wieder mit. Ich bin präsent und nehme die Umgebung wahr. Die Navigation ist nach wie vor schwierig. In Waldpassagen drehe ich Extrarunden, weil mir der kleine Pfeil auf der Uhr an Gabelungen nicht zeitgerecht die Richtung weisen kann. Mit fortschreitender Dauer entscheide ich mich, das Handy als zusätzliches Navigationstool hervorzuholen. Von nun an muss ich also nicht nur an einer Nadel auf der Uhr orientieren, sondern auch noch die Entscheidung treffen, ob ich primär ihr folge oder doch auf die Karte des mobilen Telefons vertraue. Und das bei fortschreitender Tageszeit.
Und dann folgt auch grad der nächste Aussetzer. Ich kenne die Gegend. Das macht es nicht besser. Vor meinem geistigen Auge sehe ich bereits den nächsten Ort, Bülach. Als ich aus dem Wald herauskomme und in das vor mir liegende Tal blicke, erkenne ich schnell: das ist alles, nur nicht Bülach. Wo ist der Flughafen, der von hier aus sichtbar sein sollte? Beim Runterrennen entdecke ich auf einer Bank den Schriftzug der Gemeinde Embrach. Aber Moment mal, da komme ich doch grad her. Mein räumliches Denken greift nicht mehr. Ich komme in eine nächste Minikrise. Schlussfolgerung: wenn ich meinem geplanten Streckenverlauf folge werde ich am Ziel zwischen 170 und 180 Kilometer haben. Das ist nicht das, was ich mir gerade vorstellen möchte. Ich hatte mich so oft verlaufen und Extrakilometer gesammelt. Eine Ankunft zu Hause bei Tageslicht wäre aber schon schön. Also muss Plan B her. So rasch wie möglich über den letzten Anstieg und auf direktem Wege zurück nach Zürich. Herr Google errechnet mir eine verbleibende Strecke von 19 Kilometern. Das ist akzeptabel und macht mir Freude. Nicht einmal mehr ein Halbmarathon! Woohoo!
Das Finale naht. Ab jetzt ist es gewohntes Terrain. Nur noch um den Flughafen (der zu Corona Zeiten so ruhig wirkt wie der von Berlin bis 2020) und in ein paar Kilometern bin ich zu Hause. Aber Moment. Die Parkplätze und damit auch die Zugangsstrassen am Flughafen sind für Passanten gesperrt. Ein Umweg kommt nicht in Frage. Der Zugang ist mittels elektrischem Weidezaun versperrt. Der angrenzende Bauer möchte natürlich nicht, dass die Massen, die sich sonst hier auf der Panzerstrasse (die parallel zum Flughafen verläuft) auf Fahrrädern, Inlineskates oder zu Fuss bewegen, seine Wiese zertrampeln. Begreiflich. Wenn ich mich aber ganz flach auf den Boden lege und hindurchrolle, sollte das passen. Abenteuer noch auf den letzten Metern. Zwei Radfahrer kommen mir entgegen. Sie werden auch irgendwie den Ausweg finden. Über gewisse Schutzmassnahmen kann man diskutieren. Und die Ordnungshüter sind ja stets zur Stelle zur Überwachung der Vorkehrungen. Und prompt kommt mir ein Polizeiauto entgegen. In meinem Kopf wird mir schnell klar, umkehren werde ich hier nicht. Und wenn wir das an Ort und Stelle ausdiskutieren müssen. Ich habe mich schon auf dem Rücksitz des leuchtorangenen Fahrzeugs den Rest der Strecke absolvieren sehen. Mit Tempo rast der Wagen mir entgegen. Und vorbei. Die Radfahrer waren sicher als Beuteobjekte interessanter als ein verstaubter, in leicht zusammengefallender Haltung schweren Schrittes Rennender.
Und ja, ich bin noch/wieder am Rennen. Also wie man so rennt nach der Zeitdauer und Strecke. Wohl eher ein traben. Von aussen sah es vermutlich schlimm aus. Gefühlt war es ein Fliegen. Nicht wie eine Libelle. Eher so ein dicker Brummer. Bei denen man sich immer wundert, wie sie ihr Gewicht in der Luft halten können.
Und schon kurze Zeit später sehe ich in greifbarer Entfernung unsere Wohnsiedlung. Jetzt bin ich wirklich auf meiner Heimstrecke. Und irgendwie ist es ganz anders als bei einem Wettkampf irgendwo in der weiten Welt. Ich spüre eine Befriedigung, aber es treibt mich nichts mehr an. Das Gefühl von «zu Hause sein» kommt auf. Kein Zielsprint. Keine Gänsehaut. Ein paar Tränen der Freude und Anstrengung. Das ist ein gutes Zeichen. Die kommen jeweils, wenn ich mir bewusst bin, etwas Grossartiges erlebt zu haben. Eine grosse Reise geht zu Ende. Emotionen dürfen raus. Und müssen. Nach so einem Erlebnis erst recht. Ein paar Nachbarn fragen, wo ich denn wieder so rumrenne. Details erspare ich mir. Ich würde auf Unverständnis stossen. Einzig einem Laufkollegen, der mir zufällig entgegenkommt, schleudere ich die Zahl 166km vor. Ungläubig fragt er nochmal nach. Und ich kann ihn gut verstehen. Die vergangene Nacht und der heutige Tag waren unreal. Zumindest für die Aussenstehenden.
Fazit. Es geht auch ohne Startnummer. Vielleicht fehlt ein wenig der wettkampfübliche Biss. Der letzte Druck. Das Spiel mit den Konkurrenten. Die Kommunikation an Verpflegungsposten. Die Motivation durch Zuschauer. Das Gemeinsame.
Für mich ist und bleibt es ein aussergewöhnliches Erlebnis, in fremden Gegenden mit Entdeckergeist einen Wettkampf zu bestreiten. Auf gewohntem Terrain macht so ein langes Ding zwar auch Spass, es fehlt aber irgendetwas. Eine Ultradistanz ist ein intensives Erlebnis. Die Beine sind leichter, je unbeschwerter der Kopf ist. Und den bekomme ich frei, sobald ich in ein Flugzeug steige. Bleibt zu hoffen, dass die Grenzen bald wieder öffnen und wir länderübergreifend mit Sportfreunden aus aller Welt unseren Lieblingsfreizeitbeschäftigungen nachgehen können. Denn das ist mein wichtigstes Résumé: Gemeinsam ist das Erlebnis ein ganz anderes. Sport verbindet. Und das kann auch ein «Ersatz-Ego-100-Meilen-Lauf» nicht kompensieren. Bleibt gesund und trainiert weiter auf euer nächstes Highlight ! Es wird kommen.
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